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Fiktionaler Atem und filmische Dichte

Tod einer Kadettin 1/2: Interview mit Hannah und Raymond Ley

Der Fall Jenny Böken, die 2008 vom Segelschulschiff Gorch Fock verschwand und elf Tage später tot aus der Nordsee geborgen wurde, bewegt die Gemüter bis heute. Für unsere Ausgabe 5/2017 sprach Bernd Jetschin mit Hannah und Raymond Ley, die versuchen, das Thema in zwei Filmen aufzuarbeiten. In der Print-Ausgabe war eine Gekürzte Fassung des Interviews abgedruckt. Lesen Sie nun die Komplette Fassung.

Drehbuchautorin Hannah Ley
Drehbuchautorin Hannah Ley (Bild: Foto: Christine Frenzl)

Ob Dokumentarfilm, Dokudrama oder Spielfilm mit dokumentarischen Bezügen: Grimmepreisträger Raymond Ley („Eine mörderische Entscheidung“) ist in beiden Welten zu Hause. Am 5. April zeigte die ARD im Ersten seinen Spielfilm „Tod einer Kadettin“, eine UFA Fiction Produktion im Auftrag von NDR und ARD/Degeto, und im Anschluss die 30-minütige Doku „Der Fall Gorch Fock – Die Geschichte der Jenny Böken“, die Ley zusammen mit Jan Lerch realisiert hat.

„Mann über Bord“ schallte es in einer Septembernacht 2008 auf dem deutschen Segelschulschiff Gorch Fock, gesucht wurde eine junge Offiziersanwärterin, die am Ausguck die Wache übernommen hatte. Die Kadetten hatten einen Schrei gehört, dann war die junge Frau nicht mehr auf ihrer Position und nirgends mehr auffindbar. Die Umstände, warum die junge Frau, die im übrigen keine Rettungsweste trug, in dieser tiefschwarzen Nacht vor ihrem 19. Geburtstag bei Windstärke sieben über die Reling stürzt, sind nicht aufgeklärt.

Die Grimmepreisträger Hannah und Raymond Ley haben das Drehbuch geschrieben zu „Tod einer Kadettin“. Im Interview erklären die Leys ihre Vision der Geschichte, und warum sie sich mit zwei Filmen mit diesem Fall beschäftigen.

Sie drehen ja gerne Dokudramen. Warum haben Sie in diesem Fall zwei Filme hergestellt, einen Spielfilm und eine Dokumentation?

Raymond Ley: Es war der Wunsch des NDR, dass wir hier einen Spielfilm und eine Dokumentation getrennt herstellen. Der Vorteil bei dieser Arbeit war, dass wir die Recherchen und Interviews zur Doku als Anregung für den Spielfilm nutzen konnten. Wir haben die Basis der Fakten dann übertragen auf die Fiktion. Mit der Darstellung der Hauptfigur durch Maria Dragus entstand eine eigene Figur – unabhängig von Jenny Böken. Für uns war es wichtig, einen fiktionalen Atem zu haben, um zu eigenen Darstellungen und Fragestellungen zu gelangen. Aber die Relevanz der Geschichte entsteht durch die Fakten.

Wie nahe ist denn die fiktionale Lilly an der Jenny Böken?

Raymond Ley: Wenn August Diehl Karl Marx spielt, ist dies ebenso eine Interpretation, wie wenn Maria Dragus sich mit ihrer Lilly Jenny Böken annähert. Durch ihre Darstellung entsteht ein anderer Blick, ein neuer fiktionaler Kern. Wir wollten in der Gewichtung unseres Stoffes dicht an der Hauptfigur erzählen – ihre Wünsche, ihren Ehrgeiz, ihre Träume und so klar wie möglich die Erwartungen der Marine, der Eltern, der Kadetten an diese Figur erklären und aufzeigen. Und wie setzt sich die junge Frau selbst unter Druck?

Sie fokussieren sich stark auf die gruppendynamischen Elemente insbesondere unter den Kadetten der Marine. Und da ist in ihrem Film die junge Lilly eine Außenseiterin, eine, die sich und den anderen etwas beweisen will. Hat sie selbst unter einem zu starken Druck gestanden?

Raymond Ley: Wir haben in der Fiktion einen sehr starken emotionalen Druck auf unsere Hauptfigur Lilly ausgeübt, also mit Maria Dragus auch ein ganz eigenen dramaturgisches Ansatz für diese Frauenfigur entwickelt. Die Fiktion eröffnet uns die Räume, die Figur in die Zange zu nehmen oder sie auch alleine zu lassen. Uns ging es auch darum, den Zuschauer in die Angst zu versetzen um die junge Frau. In diesen Momenten lösen wir uns ab vom dokumentarischen Boden hin zur fiktionalen Gestaltung. Es ist eine interessante Geschichte, wenn Jenny Böken in ihrem Tagebuch schreibt: Ich wollte nicht mit an Land. Ich war einfach müde. Ich bin an Bord geblieben.“ Vielleicht liegt hierin der Subtext ‚ich kann in der Gruppe nicht funktionieren. Die wollen mich gar nicht. Das funktioniert eh nicht.’

In Ihrem Film ist Lilly eigentlich nicht tauglich für den Dienst an Bord, zumindest denken das die sie untersuchenden Ärzte und auch ihre Vorgesetzten. Von ihren Kameraden und Kameradinnen wird sie gemobbt. Sie werfen ja Fragen auf nach der Verantwortlichkeit. Dass es in diesem System Marine nichts oder niemand gab, der die junge Frau hätte schützen können?

Hannah Ley: Sicher, keiner der Verantwortlichen hat rechtzeitig eingegriffen oder das Problem hinreichend realisiert. Da gibt es keine einfache Wahrheit. Die Marine war und ist konservativ – und geprägt von einer Männergesellschaft, die sich auch nur langsam auf Frauen im Dienst und vor allem an Bord einstellen wollte. Natürlich schauen wir auch auf die gruppendynamischen Prozesse, gerade unter den Kadetten und Kadettinnen; da geht es darum, wer zur Peergroup gehört und wer der Stärkere ist.

Für diese Sicht haben Sie Quellen?

Hannah Ley: Selbst Marineangehörige sagen uns, 2008 sei man noch nicht so auf Frauen auf der Gorch Fock vorbereitet gewesen. Weiteres wissen wir aus Hintergrundgesprächen mit den Eltern, den Lehrern Jennys, anderen Kadetten, aus den Mails von Jenny an ihre Familie und aus ihrem Tagebuch, aus dem wir zitieren. Aus den polizeilichen Vernehmungsprotokollen wird deutlich, wie herablassend und teilweise kalt die anderen Kadetten über Jenny gesprochen haben und ihre Position beschreiben – also, welches Bild sie von Jenny hatten: übermotiviert und vorlaut.

Wie offen war denn die Marine für Recherche?

Raymond Ley: Die Marine dagegen hat sich verweigert, mit uns zu sprechen oder uns mit Kadetten der Gorch Fock sprechen zu lassen – bis auf einige Hintergrundgespräche. Achim Winkler, der Pressesprecher der Marine, sagte uns: „Der Fall Jenny Böken – so tragisch er ist – war ein Unglücksfall. Er ist für die Marine abgeschlossen und deswegen hat auch keiner, der die Uniform trägt, sich dazu zu äußern.“ Von Offenheit kann da keine Rede sein.

Regisseur Raymond Ley
Regisseur Raymond Ley (Bild: Foto: WDR)

Kurz bevor in ihrem Film die junge Frau über Bord geht, vertraut sie der Sanitätsmeisterin des Schiffes an, dass es niemanden auffallen würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Ist das nicht ein Alarmschrei, der den Selbstmord als Ursache geradezu nahelegt?

Hannah Ley: Diese Begegnung fand laut Sanitätsmeisterin am Unglückstag statt. Die Hinweise, die in die Richtung Suizid führen, lassen aber keine eindeutigen Rückschlüsse zu. Denn es gibt ebenso viele Äußerungen, die das in Frage stellen. Letztlich kommt man zu vier Möglichkeiten, wie sich das Unglück in dieser Nacht ereignet haben könnte. Diese spielen wir mit Hilfe einer Journalisten-Figur durch. Der Journalist stellt selbst Nachforschungen an und kommt zu dem Ergebnis, dass man keine der Varianten ausschließen kann.

Raymond Ley: Wir hätten es uns auch einfacher machen können: Mord geht immer. Wir mussten es aber seriöserweise offen lassen. Es gibt keine Hinweise auf eine einzige klare Ursache. Wenn uns die Recherche eine Möglichkeit gelassen hätte, sich festzulegen, dann hätten wir das getan.

Hannah Ley: Alle Varianten werfen so viele Fragen auf. Und trotzdem ist sie zu Tode gekommen. Also kann es nur darum gehen, jede einzelne Version ernst zu nehmen und zu fragen: Was ist da schief gelaufen, wenn es so gewesen ist? Das heißt, in jedem Fall stellt sich immer die Frage nach der Schuld, der Mitschuld und den Verantwortlichkeiten. Das wollten wir anhand dieses Falles erzählen. Klar ist, die junge Frau war ziemlich allein in der Welt der Marine, sie stand stark unter Druck. Und das hat offenbar niemand bemerkt.

Gedreht wurde in Polen in der Danziger Bucht und im Hafen von Gdynia. Als Kulisse diente das dreimastige Vollschiff Dar Pomorza. Und Sie sind mit einem Schiff richtig hinaus gefahren, um dort zu drehen?

Raymond Ley: Ja, wir sind vier Tage hinaus gefahren für die Dreharbeiten. Insgesamt hatten wir drei Schiffe für diesen Film. Mit dem Segelschulschiff Dar Modziezy sind wir tatsächlich in See gestochen, die Dar Pomorza im Hafen hat uns als Kulisse gedient und dann gab es noch ein drittes Schiff, auf dem wir Szenen auf den Gängen unter Deck und in der Arztkabine drehen konnten. Schließlich hat unser Szenenbildner Harald Turzer im Hafen von Gdynia noch einen kleinen Studiobau errichtet, der den vorderen Teil der Gorch Fock stilisiert darstellt und auf dem wir die Szene gedreht haben, bei der die junge Kadettin über Bord ging. Aber alle Szenen während dieser Nacht auf dem Schiff mit dem Alarmruf „Mann über Bord“ und den Rettungsversuchen sind auf der Dar Modziezy, auf offener See und in der Nacht entstanden. Wir hatten schon ein wenig Angst, ob da jemand seekrank wird. In Wirklichkeit war ja in der Unglücksnacht ein Seegang von Windstärke 7. Zuvor waren wir schon einmal für die Probe mit diesem Segler auf dem offenen Meer, da herrschte allerdings Windstärke 4, die wir dann genutzt haben, Details zu drehen – Wellen, Segel et cetera.

Sie haben für diesen Film mit Dominik Berg als ersten Kameramann gearbeitet und hatten mit Resa Asarschahab einen zweiten dokumentarisch geschulten Kameramann dabei, der schon für Ihren Film „Die mörderische Entscheidung“ Interviews in Afghanistan realisierte. Wie lief die Zusammenarbeit?

Raymond Ley: Wir haben uns über Filmbeispiele verständigt. Außerdem konnten wir bei einem dreitägigen Probedreh schon ein Gefühl füreinander entwickeln. Dominik hatte lange dokumentarisch gedreht auf der Cap Anamur und dann zwei Spielfilme fürs Kino gemacht. Er kannte genau die Schnittstellen für so eine Arbeit. Wir hatten mit dem US Film „The Big Short“ von Adam McKay einen guten Anker gefunden, uns darüber zu verständigen, wie inszeniertes dokumentarisches Material im Fiktionalen bestehen kann. Es gibt kleine Szenen, die wie dokumentarisches Material wirken, etwa, wenn Maria Dragus in einer Szene über ihre Ängste spricht, in die Takelage zu klettern. Klar, wir bleiben im Fiktionalen, das sogenannte Dokumentarische ist hier aber improvisiert.

Was war Ihnen visuell wichtig?

Raymond Ley: Dichte, extreme Blickwinkel und Lichtverhältnisse – und dabei eine große Freiheit für die Schauspieler. Die Kamera sollte schnell sein und oftmals von der Schulter kommen. Dass wir dadurch immer eine hohe filmische Dichte erzeugen und auch Schärfenfahrten benutzen können. Wir haben oftmals den Handlungsmittelpunkt überschwenkt, haben Nebenfiguren wichtig werden lassen und in den Fokus genommen. Dafür haben wir relativ schnell ein Verständnis gefunden. Und der erste und zweite Kameramann haben sich gut verstanden – wobei die zweite Kamera ohne Assistenten auskommen musste.

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Kommentare zu diesem Artikel

  1. Der Schiffsname ist falsch! Kenne das Schiff, kann zwar kein polnisch, aber meine Erinnerung sagt, dass an dem Namen was nicht stimmen kann. Es spricht sich “hinten” übrigens mit einem “weiche g”, so wie das 2. g in “Garage”.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Dar_Pomorza

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    1. Danke für den Hinweis! Wir haben den Namen korrigiert.

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