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"60 Prozent waren es noch nie!"

Berlinale 2018: Perspektive Deutsches Kino

Die Perspektive Deutsches Kino war auf der Berlinale nicht immer ein reiner Quell der Freude. In diesem Jahr war sowohl inhaltlich als auch politisch eine Wende auszumachen. Margret Köhler fasst für uns die Rolle des Deutschen Kinos zusammen.

Screenshot aus "Die defekte Katze" von Susan Gordonshekan
Screenshot aus “Die defekte Katze” von Susan Gordonshekan (Bild: Foto: Glory Film/Julian Krubasik)

Ohne Frauen ging auch in der Reihe “Perspektive Deutsches Kino” nichts. Für acht von den insgesamt 14 Filmen, darunter vier Kurzfilme und drei mittellange Filme, zeichneten Regisseurinnen verantwortlich. Für Sektions-Chefin Linda Söfker keine Überraschung. Es gab immer interessante Arbeiten von Frauen, “trotzdem: 60 Prozent waren es noch nie.”

Auffällig die männliche Dominanz im Spielfilmbereich, weibliche Handschrift manifestierte sich dagegen in allen vier Dokumentarfilmen. Und die bewiesen besondere Stärke. In “Draußen” porträtieren Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht vier Obdachlose von der Straße, die mit wenigen Habseligkeiten auskommen. Weil sie es wollen, auch wenn es manchmal hart ist. Die Absolventinnen der Kölner Kunsthochschule für Medien begleiten Matze, Elvis, Peter und Sergio; Menschen, die trotz allem ihre Würde und Individualität bewahren, sich nicht als Opfer fühlen und auch nicht so dargestellt werden.

Die Filmemacherinnen werfen einen Blick in die Plastiktüten, Taschen und Einkaufswagen, holen Informationen aus den Objekten. Da hat Elvis sein Idol auf der Jeansjacke und haust in einem “Wohnzimmer” unter der Autobahnbrücke mit Blümchen auf dem Tisch, trägt stolz FC Köln-Schal und Cowboystiefel, hält penibel Ordnung, wovon sogar Bügel zeugen. Der Ex-Junkie Sergio aus Kasachstan findet es lächerlich, mit 37 Jahren noch bei den Eltern zu wohnen und hat sich mit seiner derzeitigen Existenz abgefunden, Matze zieht es vor, im Wald in der Hängematte zu campieren und zeichnet liebevoll Vögel, Peter war mal Karnevalsprinz in den 1970er Jahren, dann ging die Ehe in die Brüche. Inzwischen kann er nicht mehr anders leben, auch wenn er sich vor seiner Tochter schämt. Dass diese Doku nie zu einer Ästhetisierung von Armut und Elend wird, ist auch Sophie Maintigneux zu verdanken, die mit der diskreten Kamera die richtige Balance von Nähe und Distanz wahrt.

An die Nieren geht “Überall wo wir sind” von Regisseurin, Produzentin und Kamerafrau Veronika Kaserer (weitere DoPs Jan Zabeil und Jakob Stark) über einen 29-jährigen Tanzlehrer aus Berlin, der seit sieben Jahren gegen eine tödliche Krankheit kämpft und zum Sterben in sein Elternhaus zurückkehrt. Die Chemotherapie hat keinen Sinn mehr, dennoch lebt er länger als vom Arzt prognostiziert und hofft weiterhin, dass vielleicht ein rettendes Mittel auf den Markt kommt.

Bis zur letzten Sekunde will er alle glücklich machen, aber fordert auch einen Rest von Lebensqualität für sich. Wenn man sieht, wie der junge Mann am Anfang noch Tanzkurse gibt, dann aber sukzessive unter körperlicher Schwäche leidet, ein Bein amputiert wird, dann schmerzt der Anblick des Verfalls, tut die Intimität weh. Der Umgang mit Krankheit, Tod und Trauer artet nie in Voyeurismus oder Larmoyanz aus, da hört man den Tod-Geweihten weinen, die Kamera bleibt draußen. Die unkonventionelle Montage wechselt zwischen “vor dem Tod” und “nach dem Tod”. Der Film erhielt verdient den mit 5.000 Euro dotierten „Kompass-Perspektive-Preis“ für den besten Beitrag aus dem aktuellen Programm.

SPRUNGBRETT

Die 2002 etablierte Berlinale-Sektion mit ersten, zweiten oder dritten Filmen vermittelt einen Eindruck dessen, was Studierende der Filmhochschulen und (einige) Autodidakten anrührt. Für Linda Söfker sind das Themen wie Abschied, erste Liebe und Familie, der Nachwuchs bewegt sich gerne in seinem bekannten Umfeld, setzt sich damit künstlerisch auseinander. Der Name des Eröffnungsfilms “Rückenwind von vorne”, also Gegenwind, war sozusagen Programm.

Screenshot aus "Rückenwind von vorn“ von Philipp Eichholtz
Screenshot aus “Rückenwind von vorn“ von Philipp Eichholtz (Bild: Foto: Darling Berlin)

Philipp Eichholtz erzählt von einer jungen Lehrerin, die sich irgendwann nicht mehr den Erwartungen von Mann und Familie beugen will und sich gegen ein Kind entscheidet, auch wenn der Gatte den Sex minutiös nach dem Eisprung plant. “Ich habe dich lieb, aber ich liebe dich nicht mehr”, sagt sie am Ende. Bis sie letztendlich ihren eigenen Weg geht, schaut man ihr gerne beim Suchen und Finden der Identität und beim Überwinden des emotionalen Stillstands zu (Kamera: Fee Scherer).

Zu den stärksten Spielfilmen zählte Felix Hassenfratz’ Drama “Verlorene” (Kamera: Bernhard Keller). Nach dem Regiestudium an der Internationalen Filmschule Köln arbeitete er als freier Regisseur für Fernsehformate, die vierteilige Dokureihe “Schnitzeljagd im Heiligen Land” wurde mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Seine Heimatgeschichte zweier Schwestern, die mit ihrem Vater nach dem frühen Tod der Mutter in der badischen Provinz leben, beginnt unspektakulär. Maria, die Ältere, die nur beim Orgelspiel bei sich ist, verliebt  sich in einen Zimmermann auf der Walz, der im Betrieb des Vaters für drei Wochen arbeiten und dann weiter ziehen soll.

Durch die ungewohnten Gefühle verliert sie ihre nur vordergründige Beherrschung, bald kristallisiert sich der jahrelange Missbrauch durch den Vater heraus und ihre Rolle als Beschützerin der jüngeren Schwester. Mit deren Unterstützung wendet sie sich gegen den Peiniger und wenn die beiden Mädchen die Matratze verbrennen und gemeinsam den Ort des Martyriums verlassen, ist das auch ein Befreiungsschlag.

Während “Feierabendbier” (Kamera: Jakob Wiessner) von Ben Brummer, ehemaliger Student der Dokumentarfilmklasse an der HFF München, das Statussymbol Youngtimer feiert und sich in viel nächtlichem Bargerede erschöpft, geht Susan Gordanshekan, in Deutschland geborene Tochter iranischer Einwanderer und ebenfalls von der HFF München, mit “Die defekte Katze” (Kamera: Julian Krubasik) doch mehr in die Tiefe.

Ein in Deutschland aufgewachsener iranischer Arzt stimmt einer arrangierten Hochzeit zu – zwischen ihm und der Frau, die aus dem Iran ins fremde Land zieht, entsteht nicht gerade eine romantische Liebe, vielleicht könnte sich eine pragmatische Beziehung entwickeln. Aber so wie die defekte Katze, die die Elektroingenieurin ins Haus nimmt, bleiben auch die Gemeinsamkeiten zwischen den Partnern defekt. Erst nach der Trennung eröffnet sich zaghaft eine zweite Chance. Ohne Zwang und ohne Druck.

Die Perspektive gilt als Plattform des Ausprobierens. Und manchmal auch als Sprungbrett. Wie bei Thomas Stuber, der 2008 seinen Erstling “Teenage Angst“ dort präsentierte, in diesem Jahr mit seinem grandiosen zweiten langen Film „In den Gängen“ im Wettbewerb vertreten war.

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