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Goldener- und Silberner Bär

Berlinale 2018: Fragwürdige Entscheidungen beim Wettbewerb

Etwas unrühmlich ging die 68. Berlinale zu Ende mit Jury-Entscheidungen, die sprachlos machten. Man hätte es ahnen können, als Jury-Präsident Tom Tykwer auf die Frage von Moderatorin Anke Engelke, ob mit Überraschungen zu rechnen sei, sybillinisch mit “fifty-fifty” antwortete.

Screenshot aus dem Film “Touch Me Not” (Bild: Foto: Manekino Film, Rohfilm, Pink, Agitprop, Les Films de l’Etranger)

Dass dann der “Goldene Bär” an die rumänische Regisseurin Adina Pintilie für ihr Langfilmdebüt “Touch Me Not” ging, hätte sich wohl kaum jemand in den schlimmsten Alpträumen vorstellen können. Vielleicht war es die #MeToo-Debatte und der Wille, auf jeden Fall eine Frau auszuzeichnen, die zu dieser Fehlentscheidung führten.

Das Doku-Essay “Touch Me Not” in aseptischem Weiß (K: George Chiper-Lillemark) erinnert an die Selbsterfahrungsgruppen der 1970er Jahre. Pintilie will mit dokumentarischen Stilmitteln das Wesen der menschlichen Intimität erkunden und so müssen ihre Protagonisten lernen, Berührung aushalten, in einen Swinger-Club gehen oder auch schon mal einem Callboy beim Duschen und Onanieren zugucken. Das ist nicht provozierend oder radikal, sondern schlicht, prätentiös und artifiziell.

Tykwer erklärte: “Wir wollen nicht nur würdigen, was das Kino kann, sondern auch vielleicht, wo es noch hingehen könnte.” Bleibt zu hoffen, dass es da im nächsten Berlinale-Jahr eben nicht hin geht. Während vor allem die Hauptstadtpresse versuchte, noch etwas Gutes in dem Votum zu entdecken, brachte es der renommierte englische “The Guardian” mit seiner Headline auf den Punkt: “Shallow, silly Golden Bear Winner ,Touch me not‘ is a calamity for the festival”.

Auch der Große Preis der Jury für die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska für “Twarz” (Gesicht) über einen Mann, der nach einem Unfall ein neues Gesicht erhält und in seinem katholischen Dorf auf Ablehnung stößt, war nicht zwingend preiswürdig (K: Michal Englert). Dass die zwei Hauptpreise an Regisseurinnen gingen, ist wohl auch als ein Zeichen in Zeiten von Quoten-Diskussion und #MeToo zu werten.

Gar doppelt geehrt wurde das Drama “Las Herederas” (Die Erbinnen) von Marcelo Martinessi aus Paraguay (K: Luis Armando Arteaga), der Preis für die beste weibliche Hauptrolle ging an Ana Brun in ihrer ersten Kinorolle. Warum das konventionell gedrehte Werk den Alfred- Bauer-Preis für “neue künstlerische Perspektiven” erhielt, ist nicht nachvollziehbar. Als Gegengewicht gab es wohl den Regiepreis an Wes Anderson für seinen charmanten und hintersinnigen Stop-Motion-Film “Isle of Dogs – Ataris Reise”. Den nahm Bill Murray entgegen, der sich über die diffusen Späße von Anke Engelke mokierte. Für Lacher sorgte seine Bemerkung: “Ich hätte nie gedacht, einmal als Hund zu arbeiten und dann mit einem Bären nach Hause zu fahren.”

Dass von den vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen kein einziger irgendeine Auszeichnung erhielt, war qualitativ nicht zu erklären. Ohne in nationalen Kategorien zu denken – Thomas Stubers “In den Gängen”, Christian Petzolds “Transit” und Emily Atefs “3 Tage in Quiberon” gehörten zu den Höhepunkten des ansonsten mit Höhepunkten nicht gerade gesegneten Wettbewerbs. Beim Publikum punkten konnte “In den Gängen”. Die Adaption von Clemens Meyers Kurzgeschichte aus dem Erzählband “Die Nacht, die Lichter” ist ein zärtlicher Liebesfilm in der nüchternen Atmosphäre eines Großmarkts.

Screenshot aus dem Film “In den Gängen” (Bild: Foto: Sommerhaus Filmproduktion / Anke Neugebauer)

Cineastische Feinkost mit Franz Rogowski als schüchternem Gabelstaplerfahrer im Laden, Sandra Hüller als kokette Marion aus der Süßwarenabteilung und Peter Kurth als erfahrenem Kollegen und tragischer Vaterfigur. Herausragende Darsteller, pointierte Dialoge und eine leise Poesie verzauberten die Zuschauer. Ein amerikanischer Verleih soll schon Interesse signalisiert haben.

Rogowski spielte auch die Hauptfigur in “Transit” nach Anna Seghers gleichnamigen autobiografischen Exilroman. In Marseille warten deutsche Flüchtlinge – auf ein Visum, ein Durchreisevisum oder ein Schiffsticket. Ein Ort des Stillstandes, ein Schwebezustand und eine Geschichte von Verlorenen auf der Suche nach Heimat. Einer von ihnen ist Georg, der die Identität eines in Paris durch die eigene Hand gestorbenen Schriftstellers angenommen hat und dessen Manuskript ihm die Passage ermöglicht, weil er irrtümlich für den Toten gehalten wird. Dass er ausgerechnet dem Charme der Witwe (Paula Beer) verfällt, die nichts vom Tod des Mannes ahnt, ist eine knifflige Wendung.

Screenshot aus dem Film “Transit” (Bild: Foto: Schramm Film / Marco Krüger)

Mit einem Trick zieht Petzold den Bogen zur Gegenwart: Die Menschen bewegen sich wie aus der Zeit gefallen in der Kleidung von Gestern in einem Marseille von Heute. Das Cinemascope-Format (K: Hans Fromm) kontrastiert die quasi unerreichbare Weite der Welt mit den inneren Grenzen der in sich gefangenen Menschen. Petzold attestierte Rogowski “die unfassbare Traurigkeit eines Belmondo.” Dem diesjährigen “Shooting Star” hätte man den Silbernen Bären als Bester Darsteller gewünscht, den bekam jedoch Anthony Bajon in Cédric Kahns Drama “La Prière” als Zögling in einer Art katholischem Klostercamp, wo er sich von seiner Sucht befreit. Auch eine sehr starke Leistung.

Ein Schauspielerfilm der Extraklasse gelang Emily Atef mit “3 Tage in Quiberon”. Marie Bäumer spielt nicht, sie ist Romy Schneider mit frappierender Ähnlichkeit und ähnlicher Stimme. Atef porträtiert nicht nur eine Frau, die sich gegen das Sissi-Image in Deutschland wehrt und hinter deren Lachen oft das Weinen steckt, sondern zeichnet auch das Spannungsverhältnis zwischen dem öffentlichen Mythos und privater Figur. “Ich bin 42, eine unglückliche Frau und heiße Romy Schneider”. An der Seite von Bäumer glänzen Robert Gwisdek als arroganter Journalist, Charly Hübner als kumpelhafter Freund und Fotograf, Birgit Minichmayr als Romys Freundin. Einen ausführlichen Drehbericht gab es in der Ausgabe 3/2018.

Screenshot aus dem Film “3 Tage in Quiberon” (Bild: Foto: Rohfilm Factory / Prokino / Peter Hartwig)

Ein Novum: Bei der Gala von “Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot” leerte sich der Berlinale-Palast zusehends und am Ende der Vorstellung wurde heftigst gebuht. Mit fast drei Stunden stellte Philip Gröning das Publikum vor eine harte Bewährungsprobe, er nahm die Ablehnung sportlich, Kino sei schließlich keine Geiselnahme, jeder könne gehen. Die Zwillinge Robert und Elena verbringen das Wochenende vor der Stadt. Man liegt im Gras und redet vor sich hin, besonders gerne über Heidegger, und stellt existenzielle Fragen, schließlich bereitet sich das Mädchen auf das Abitur in Philosophie vor.

Vorher möchte sie aber noch Sex haben. Ab und an holt man Getränke, Zigaretten und Chips von der nahen Tankstelle, alles geht seinen gemächlichen Gang, man streitet und versöhnt sich, eine Ameise krabbelt auf der Haut, eine Grille, die schwimmen kann. Am Ende mündet das sommerliche Miteinander in einer Gewaltorgie wie in Oliver Stones “Natural Born Killers . Produzent, Regisseur und Kameramann Gröning liefert magische Kinobilder, wechselt zwischen Nahaufnahmen und Totalen, im Hintergrund die Berge wie ein kolossales Gemälde, davor eine gewundene Landstraße. Ihn beschäftigt die Frage “was ist Zeit”, Film ist für ihn ein “Erfahrungsraum”. Aber nicht jeder möchte diese Erfahrung machen.

Noch 2013 kündigte Steven Soderbergh an, mit dem Filmemachen aufzuhören. Doch daraus wurde nichts. Nach der Krimikomödie “Lucky Logan” überraschte er nun mit dem auf dem Smartphone gedrehten Psychothriller “Unsane” (K: Peter Andrews) über eine Frau, die durch eine unachtsame Unterschrift in der Psychiatrie landet und sich von einem Stalker verfolgt fühlt. Dabei driftet er ins Reißerische ab, kann die verschiedenen Handlungsstränge nicht überzeugend zusammenknüpfen.

Sehr amerikanisch kam Gus Van Sants Biopic “Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot” (K: Christopher Blauvelt) daher, basierend auf dem Schicksal des nach einem Unfall querschnittsgelähmten und mit Alkoholproblemen kämpfenden John Callahan. Wie er sich aus der Misere befreit und als Comiczeichner reüssiert, das wird zum manchmal redundanten Hohelied auf die US-typische Heldensaga.

Die 68. Berlinale stand unter keinem sehr guten Stern. Im November vergangenen Jahres forderten 79 namhafte Filmemacher einen Neuanfang für das Festival nach Dieter Kosslick, der seit 17 Jahren an der Spitze steht, und Transparenz bei der Neubesetzung. Ziel müsse es sein, “eine herausragende kuratorische Persönlichkeit zu finden, die für das Kino brennt, weltweit bestens vernetzt und in der Lage ist, das Festival auf Augenhöhe mit Cannes und Venedig in die Zukunft zu führen.”

Das dämpfte die Stimmung, auch wenn einige der Unterzeichneten wie Lars Kraume oder Andreas Dresen einen Rückzug machten und eine Kritik an Kosslick weit von sich wiesen. Der hielt sich bei der Eröffnung zurück, verzichtete größtenteils auf müde Witze und wirkte leicht angeschlagen, dafür nervte Anke Engelke mit ihrem speziellen und sehr burschikosen Humor, auch wenn viele deutsche, aber vor allem die ausländischen Gäste, diesen partout nicht verstanden. Der Wettbewerb, mit 24 Filmen, davon 19 auf der Jagd nach dem Goldenen und Sibernen Bären, war mehr als durchwachsen, und die seltsame Auswahl gab einige Rätsel auf.

Warum lief “Aga” des Bulgaren Milko Lazarov “außer Konkurrenz”? Die Geschichte aus der Eiswüste Jakutiens über einen Rentierjäger und seine Frau zählte zu den bewegendsten Filmen, die Kamera von Kaloyan Bozhilov fokussiert sich vor eindrucksvoller Landschaftskulisse auf Gesichter von Menschen, die allein durch ihre Falten ein ganzes Leben erzählen. Oder Wolfgang Fischers  Panorama-Eröffnungsfilm “Styx” (K: Benedict Neuenfels), unter anderem ausgezeichnet mit dem Label Europa Cinemas, der sich einmal ganz anders dem Flüchtlings-Thema nähert? Oder Damiano und Fabio D’Innocentos “La Terra Dell’Abbastanza” (Boys cry) im Panorama über eine Jugend ohne Perspektive in den Randbezirken Roms, der mehr Kraft ausstrahlte als der italienische Wettbewerbsbeitrag “Figlia Mia” von Laura Bispuri, ein etwas aufgesetzt wirkendes Mütterdrama?

Eines steht fest: 2018 war das Jahr der Frauen. Eine #MeToo-Diskussion jagte die nächste, es gab Beratungsangebote für Betroffene, laut Kosslick liegt der kreative Anteil der Frauen bei fast 50 Prozent, wenn man Drehbuch und Produktion mit einbezieht, bei acht von 19 Wettbewerbsfilmen standen Frauen im Zentrum. So ließ sich Isabelle Huppert als Edelnutte “Eva” in Benoit Jacquots Neu-Verfilmung des Romans von James Hadley Chase von ihren Freiern nicht in ihrer Freiheit einschränken, griff Mia Wasikowska in David und Nathan Zellners Western “Damsel” zur Knarre und zeigte männlichen Luschen, was eine Frau ist.

Einer der Tiefpunkte: Axel Peterséns und Måns Månssons misslungene Satire “Toppen av Ingenting” (The Real Estate), in dem eine ältere Frau das geerbte Haus entmietet und wie eine Furie mit dem Gewehr herumballert. Dass der Festivalchef den dilettantisch inszenierten schwedischen Beitrag als eine “formal grandios erzählte Erbschaftsgeschichte” lobt, irritiert.

Wie auch die Begeisterung für Frauenfiguren, die männliche Verhaltensweisen übernehmen. Emanzipation sieht anders aus. Sehr skurril wirkte der Aufruf der Schauspielerin Anna Brüggemann unter dem Post “Nobodys Doll”, auf die klassische Rollenverteilung in der Kleiderordnung auf dem Roten Teppich zu verzichten. Im Gegensatz zum sonnigen Cannes tragen die Damen schon wegen der Kälte in Berlin wenig High Heels oder tief ausgeschnittene Fähnchen. Aber Klappern gehört wohl zum Handwerk …

Mit Zahlen konnte die 68. Berlinale glänzen: 21.000 Akkreditierte aus mehr als 130 Ländern besuchten das Festival, 330.000 Berlinale-Tickets wurden verkauft. Die Berlinale gilt als das größte Publikumsfestival. Das ist auch Kosslicks Verdienst, dessen Vertrag im Mai 2019 ausläuft. Wie es weitergeht, wird man im Sommer erfahren. Dann will Kulturstaatsministerin Monika Grütters Namen nennen.

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