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„4 Wände Berlin“: neue Doku-Reihe des rbb

30 Lebenszeichen aus der Isolation

Mit der Reihe „4 Wände Berlin“ gibt der Rundfunk Berlin Brandenburg zusammen mit der Produktionsfirma BASIS BERLIN eine ungewöhnliche Antwort auf die Situation der Branche unter dem Shutdown. 30 Film- und Fernsehmacher*innen liefern selbst produzierte zweiminütige Beiträge aus ihrer häuslichen Umgebung. Mit dabei sind unter anderem Wim Wenders, Hans Christian Schmid, Andreas Dresen, Pierre Sanoussi-Bliss, Mo Asumang und Volker Heise.

“Loreley” von Lutz Pehnert

Film- und TV-Produktion im eigenen Wohn- oder Arbeitszimmer ist heute, in der Ära der Youtube-Influencer*innen, keine Meldung mehr. Wahrscheinlich wird das Gros der Videoclips für die sozialen Medien zu Hause produziert, mit Smartphone oder semiprofessioneller Technik, als Eigenproduktion oder mit Miniteam. Rezo & Co. haben die Selfieästhetik zum Mainstream gemacht.

Interessanter ist es, wenn die häusliche Isolation selbst zum Thema der Produktion wird. So etwa als der iranische Regisseur Jafar Panahi, unter Hausarrest stehend und mit Drehverbot belegt, trickreich alle Restriktionen umging und einen kompletten Dokumentarfilm in seiner Wohnung produzierte. „This is not a Film“schaffte es 2011, auf einem Stick in einer Geburtstagstorte versteckt, bis zum Festival nach Cannes.
Auf dem dramatischen globalen und existenziellen Hintergrund der Corona-Krise hat jetzt der rbb zusammen mit der Produktionsfirma BASIS Berlin Filmschaffende zu einer filmischen Hausarbeit eingeladen. Das Projekt „4 Wände Berlin – 30 Filme mit Abstand“ während des ganzen April laufen. Alle Beiträge der Reihe entstehen im privaten Umfeld der Filmemacher*innen, oft mit dem Smartphone und ohne großes technisches Equipment gedreht. „Rau, authentisch, mitten aus der beklemmenden Realität. Inhalt und Stilmittel sind frei. Aber jeder Film soll nicht länger als zwei Minuten sein. 120 Sekunden Wirklichkeit in einer unwirklichen Zeit”, schreibt der rbb in der Ankündigung.

Producer und rbb-Redakteur Johannes Unger

Offenes Format

„Es ging uns darum, als rbb ein Lebenszeichen zu senden und zu sagen: ,Wir sind da!‘ Es ging uns darum, ein filmisches Signal zu setzen“, sagt Johannes Unger. Er ist Leiter der rbb-Abteilung Dokumentation und Zeitgeschehen und hat Erfahrung mit ungewöhnlichen TV-Formaten. 008 realisierte er mit Volker Heise und Thomas Kufus von zero one das Mammutprojekt „24h Berlin“, bei dem 80 Drehteams 24 Stunden lang 50 Berliner*innen durch ihren Alltag folgten. 2010 folgte die Dokumentation „20 x Brandenburg“ Zum Geburtstag des Landes Brandenburg produzierten 20 Filmemacher*innen für den rbb jeweils 15 minütige Filme. Dafür bekam Unger zusammen mit dem künstlerischen Leiter Andreas Dresen den Grimme-Preis.

Autor und Regisseur Jan Tehaven (Bild: LT Fotografie)

Der zweite Pate von 4 Wände Berlin ist Jan Tenhaven. Als Autor und Regisseur zeichnete er unter anderem für die Kinodokumentation „Herbstgold“, die Arte-Produktion „Die Silicon Valley Revolution“ und für die ARD-Doku „Lilos Lachen – Das erstaunliche Leben der Liselotte Pulver“ verantwortlich. Auch ihn selbst hat der Corona-Stopp voll erwischt, zunächst produktionstechnisch. „Wie weit auch ökonomisch, weiß ich erst in einigen Monaten“, sagt Tenhaven. Er steckte mitten in einer fünfteiligen Arte-Dokureihe über Menschen aus allen Teilen der USA, die er mit seinem Team bis zur US-Wahl begleiten wollte. Fünf Teile à 52 Minuten waren geplant. Zwei Teile sind abgedreht. Dann kam Corona. Jetzt weiß niemand, wie es weitergehen kann.

„Wir werden zwar versuchen, mit lokalen Teams weiter zu drehen – aber selbst die haben mittlerweile Probleme. Vielleicht werden sich die Protagonist*innen selbst drehen müssen, vielleicht werden wir Skype-Interviews machen müssen“, mutmaßt Tenhaven. Dabei sind seine Projekte ja noch nicht komplett abgesagt. Sie müssen jetzt umgeplant werden, man muss alternative Produktionsweisen finden.
Auch Tenhaven hat bereits mit offenen Formaten gearbeitet, allerdings nie so konsequent wie bei 4 Wände Berlin. So führte er 2017 Regie bei der Langzeitbeobachtung „Dieses bunte Deutschland“, ein dokumentarisches Projekt über vier Geflüchtete, die er von seinem Team ein Jahr lang begleiten ließ. „Aber da gab es ein durchgehendes Thema und ein visuelles Konzept, einen Rahmen. Das ist nicht zu vergleichen“, sagt der Regisseur.

Im Grunde kenne er persönlich aus dem deutschen Fernsehen kein ähnliches Projekt wie „4 Wände Berlin“. „So etwas gibt es vielleicht mal bei funk. Hier bietet die Krise jetzt wiederum eine Chance, so etwas zu produzieren“, ist sich Tenhaven sicher. Und er macht dem rbb ein Kompliment für seinen Mut: „Ich hoffe, dass diese Freiheit, im öffentlichen Fernsehen solche Experimente starten zu können, bleiben wird.“
Kuratieren statt redigieren

Die Entstehungsgeschichte von 4 Wände Berlin ist der Umstände wegen eine sehr kurze. Von den Ereignissen überrascht, begannen Johannes Unger, Jan Tenhaven und die Kolleg*innen bei BASIS BERLIN unmittelbar nach dem Shutdown der Filmbranche zu brainstormen. Im Zentrum stand die Frage, wie Kreative mit der neuen Situation umgehen. „Die waren gerade noch am Filmset und sind jetzt plötzlich auf Null gebremst und auf ihre Wohnung zurückgeworfen. Und wie geht es Dokumentarfilmer*innen, die gerade noch im prallen Leben, auf Drehreise, unterwegs waren und jetzt plötzlich ausgebremst sind. Wohin geht jetzt all diese Kreativität?“ fragten sich Unger und Tenhaven.
Mit „4 Wände Berlin“ entwickelten sie das Konzept eines persönlichen filmischen Tagebuchs, oder eines „filmischen Kettenbriefs“, wie Johannes Unger sagt. Frei nach dem Motto: Wir fragen viele, ob sie mitmachen, und einer fängt an.

Jan Tenhaven fungiert als Projekt-Regisseur und Kurator. „Kurator ist zwar ein inflationär benutzter Begriff, aber in dem speziellen Fall trifft er meinen Job ganz gut, weil ich nicht redigiere. Die Filmemacher*innen haben komplett freie Hand“, beschreibt er seine Aufgabe. „Es gab von unserer Seite klare Vorgaben zu Länge und Drehort. Jeder hat maximal 120 Sekunden und es muss unter Berücksichtigung der rechtlichen Gegebenheiten zuhause gedreht werden, bestenfalls noch auf dem Balkon“, betont Unger. „Die filmischen Mittel sind dabei vollkommen freigestellt: Spielfilm, Doku, Animation, Tanz- oder Musikvideo, sogar ein Daumenkino ist dabei“, ergänzt Tenhaven.
Zugesagt für 4 Wände Berlin haben laut rbb unter anderem Mo Asumang, Annekatrin Hendel, Volker Heise, Andreas Dresen und Wim Wenders. Tenhaven sieht sich als Sparring-Partner der Filmemacher*innen, greift aber inhaltlich nicht ein, sondern lässt die Kreativen machen. Die fertigen Filme sieht er erst, wenn sie auf den Server hochgeladen sind. „Sie werden dann nur noch technisch bearbeitet, aber nicht mehr inhaltlich“, versichert er.

Filmstill aus „Deviation“ von Rainer Kohlberger

Auch für rbb-Mann Johannes Unger ist das Neuland. „Es gibt keine redaktionelle Begleitung, es gibt keine Formatvorlagen. Wir arbeiten quasi aus dem Stand, von der Hand in den Mund. Jeder kann machen, was er will. Von streng dokumentarisch, über musikalisch und animiert bis fiktional kann das alles Mögliche sein. Am 3. April gab es bereits ich fünf Filme. Die sind komplett unterschiedlich und genau das hatten wir beabsichtigt“, sagt Unger. Redaktionell muss er auf die fertigen Beiträge schauen, weil der rbb presserechtlich verantwortlich ist. „Da sehe ich aber keine Probleme und da wird auch nichts passieren, was rechtlich schwierig sein kann. Es stimmt aber: In diesem Fall gibt es nicht die übliche redaktionelle Begleitung“, bestätigt er.

Technische Selbstermächtigung

Nicht nur inhaltlich, auch technisch haben die Filmemacher*innen freie Hand. Viele arbeiten mit dem Smartphone, einige mit semiprofessionellen und professionellen Kameras. „Bezüglich der Arbeit mit Smartphones geben wir den Tip, nicht nativ, also mit 30p oder 60p Frames zu produzieren, sondern auf 25 bis 50 p zu drehen”, sagt Jan Tenhaven.

Zudem bekamen die Filmschaffenden die FiLMiC Pro-App an die Hand. Mit ihr kann man in das System des Smartphones eingreifen und auf 25p drehen, was einem dann die Konvertierung erspart. Außerdem kann man über die App manuell die Blende regeln, die Schärfe fixieren und in den Weißabgleich eingreifen. Teilweise schneiden die Filmemacher*innen dann die Beiträge selbst, teilweise schicken sie sie an Editoren.

Aber funktioniert diese technische Selbstermächtigung der Filmer*innen? Immerhin ist es ein Unterschied, ob man als Regisseur oder Autor arbeitet oder bei einem technischen Gewerk. Jan Tenhaven ist zuversichtlich: „Die meisten haben ein Basiswissen. Oft holen sie sich jemand aus der Familie zur Unterstützung dazu.“ Als Beispiel nennt er rbb-Redaktionsleiter Johannes Unger, der honorarfrei ein kleines Porträt seiner Familie unter Corona-Verhältnissen zur Reihe beigesteuert hat. Dabei bediente Ungers Frau die Kamera: „Sie ist Journalistin und hat mit einer Sony Alpha DSLR gedreht. Wir haben auch selbst geschnitten.“

Gewerke stärken

Auch Jan Tenhaven hat einen Film geliefert. Dabei hat er bewusst den Prozess des Filmens transparent gemacht, seinen Selfie-Stick und sein Smartphone ausgestellt, um deutlich zu machen: Ich bin normalerweise Regisseur, kein Kameramann. „Denn – ganz wichtig: Wir wollen durch diese Produktion keine Werbung für VJ-Formate machen. Wir halten Kameraleute für ein ganz wichtiges Gewerk und wollen die nicht ersetzt sehen“, betont Tenhaven.

Alle beteiligten Filmemacher*innen bekommen eine standardisierte Autoren-Gage und alle bekommen das Gleiche: Wim Wenders wie die junge RBB-Reporterin. „Das ist nicht viel Geld, eher am unteren Rand dessen, was man auf dem freien Markt bekommen würde. Drei Tagessätze sind angesetzt“, erklärt Tenhaven. Es können auch weitere Gewerke bestellt werden, etwa ein Kameramann oder ein Editor, denn das Projekt soll auch die Gewerke stärken. „Allerdings ziehen die Kameraleute hier eher die Kürzeren, weil wir keine großen Drehteams in den Wohnungen haben wollen“, sagt Tenhaven.
Finanziell besser gestellte Projektteilnehmer*innen seien übrigens eingeladen, einen Teil der Gage zu spenden, etwa für lokale Kinos.

Filmstill aus „Schlafanzug und Solidarität“
von Viktoria Kleber

Die Filme sind zunächst für die Online-Auswertung gedacht. Sie laufen auf den sozialen Medien des rbb, bei radioeins.de, rbbKultur, rbb-online.de und derrbbmachts.de. Ausgewählte Beiträge werden dann im linearen Fernsehen, bei der rbb-Abendschau zu sehen sein. „Gerade hat auch unser Vorabend-Magazin zibb eine Übernahme angefragt“, berichtet Johannes Unger. Am Ende wird eine Kompilation von 75 Minuten Länge entstehen, die der rbb am 3. Mai senden will und die eine Mischung aus den kurzen Stücken und Aufnahmen des Kameramann Thomas Lütz, der im letzten Jahr den Deutschen Kamerapreis gewonnen hat. „Sehr ästhetische, grafische und fotografische Aufnahmen aus Berlin und Brandenburg, die das aktuelle Alltagsleben zeigen, in diesem Ausnahmezustand. Leere Plätze, sehr streng kadrierte Bilder“, schwärmt Jan Tenhaven.

Über die Bilder von Lütz werden Nachrichtentöne gelegt, um eine Chronik des Monats April zu generieren. „Wir werden also zwei visuelle Ebenen haben: Das bunte Bilder-Potpourri von Smartphones, Bridgekameras und Animationen der 30 Filmschaffenden und die sehr ästhetisierende, grafische Bildebene von Lütz“, freut sich Jan Tenhaven. „Das wird großartig!“ [12477]

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Kommentar zu diesem Artikel

  1. Ich habe 16 Stunden Filmmaterial ueber die Corona – Krise gedreht. Daraus entsteht ein Film. Bei Interesse bitte melden.

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